Nationalitätenpolitik in der Donaumonarchie und Minderheitenfragen in der Europäischen Union



Nationalität / Abolutzahl / Prozent
__________________________________
Deutsche : 12.006.521 / 23,36
Tschechen : 6.442.133 / 12,54
Slowaken : 1.967.970 / 3,83
Polen : 4.976.804 / 9,68
Ruthen : 3.997.831 / 7,78
Slowenen : 1.255.620 / 2,44
Serben u.Kroaten : 4.380.891 / 8,52
Italiener : 768.422 / 1,50
Rumänen : 3.224.147 / 6,27
Ungarn : 10.056.315 / 19,57
andere : 2.313.569 / 4,51
____________________________________________
Insgesamt 51.390.223 / 100,00

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Die angeführte Tabelle zeigt die Vielfalt der Nationalitäten in der Donaumonarchie gemäß der Volkszählung 1910. Die Zahlen verdeutlichen auch, dass sowohl die Ungarn in ihrer Reichshälfte als auch die Deutschen in der österreichischen zwar die relative Bevölkerungsmehrheit stellten, aber ihnen die absolute Mehrheit fehlte. Trotzdem fühlten sich die beiden Volksstämme, die Deutschen und die Ungarn, als Träger der herrschenden Klasse.

Meine Ausführungen werden sich vor allem auf die österreichische Reichshälfte konzentrieren, da nach dem Ausgleich mit Ungarn beide Reichsteile verschiedene Wege gingen. In Cisleithanien blieben das Nationalitätenproblem und die Suche nach entsprechenden Lösungen von 1848 bis zum Ersten Weltkrieg ein zentrales Thema der Monarchie. Ungarn, als Nationalstaat konzipiert, anerkannte - den Sonderstatus für Kroatien ausgenommen - die anderen Völker wie Deutsche, Rumänen und Slowaken nur als„nationale Minderheiten“.

Spätestens in den Revolutionsjahren 1848/49 stand nach der Absichtserklärung des tschechischen Historikers Frantisek Palacky, nicht an der Nationalversammlung in Frankfurt teilzunehmen, fest, dass eine neue, vom Nationalismus getragene Epoche im Habsburgerreich angebrochen war. Trotz dieses Entschlusses bekräftigte er aber damals gleichzeitig auch durch seinen berühmt gewordenen Ausspruch: „Wenn es Österreich nicht schon gäbe, müsste man es im Interesse Europas und der Menschheit erfinden. “ seine volle Loyalität dem Habsburgerreich gegenüber
Von nun an aber begnügten sich die einzelnen Nationalitäten nicht mehr mit der „gegenseitigen Achtung der Individualität der Völker“ (G.Stourzh, Die Idee der nationalen Gleichberechtigung, p. 40), sondern sie verlangten – motiviert durch die Ideen der Französischen Revolution- als gleichberechtigter Partner anerkannt zu werden und an der Herrschaft im Staat teilnehmen zu können.
Die fortschrittlichen Ideen der Paulskirche und des Reichstages von Kremsier fanden später, nach zwei Jahrzehnten absolutistischer Herrschaft Eingang in den österreichischen Grundrechtskatalog. Bedenkt man, dass ähnliche Verfassungsbestimmungen in Deutschland erst unter der Weimarer Republik eingeführt worden sind, muss dem österreichischen Gesetzeswerk einen besonderen Stellenwert attestiert werden.

Die wichtigsten Punkte in Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes möchte ich ihrer besonderen Bedeutung wegen wortwörtlich zitieren, da sie im 19. Jahrhundert für ganz Europa Vorbildwirkung hatten:
(Abs.1)Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache.
(Abs.2) Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichen Leben wird vom Staate anerkannt.
(Abs.3) In den Ländern, in welchen mehrere Volksstämme wohnen, sollen die öffentlichen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet sein, dass ohne Anwendung eines Zwanges zur Erlernung einer zweiten Landessprache jeder dieser Volksstämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung in seiner Sprache erhält. (zitiert nach G. Stourzh, p.44)

Darüber hinaus muss bei diesem bedeutenden Gesetzeswerk noch die Möglichkeit des Beschwerderechts hervorgehoben werden, das jedem Bürger der österreichischen Reichshälfte die Möglichkeit gab, bei vermeintlicher Verletzung seiner Rechte das Reichgericht einzuschalten.
Welche Bedeutung der Artikel 19 im praktischen Leben hatte, beweist eine Beschwerde dreier damals noch auf niederösterreichischem Territorium gelegenen Gemeinden (nach dem Friedensvertrag von Saint Germain 1919 fielen sie mit Feldsberg /heute Valtice an den neu gegründeten Staat Tschechoslowakei).
Ober-und Unthermenau und Bischofswarth waren damals überwiegend von slowakisierten Kroaten bewohnt. Der niederösterreichische Landesschulrat verweigerte aber den Volksschulkindern den Unterricht in ihrer Muttersprache. Die drei genannten Gemeinden wandten sich darauf an das Reichsgericht, das für sie positiv entschied.
Ein ähnlicher Vorfall ereignete sich in der Stadt Brody in Ostgalicien, dem Geburtsort von Joseph Roth.
Die jüdische Bevölkerung, die überwiegend Deutsch sprach, verlangte in dem überwiegend von Ruthenen bewohnten Ort für ihre Kinder einen deutschen Unterricht in der Volksschule. Auch ihnen wurde wie in Niederösterreich das Recht auf eine deutsche Schule von der dortigen Landesschulbehörde untersagt. Auf Grund einer Beschwerde beim Reichgericht kamen auch sie zu ihrem begehrten Recht. (aus: G. Stourzh , Die Idee der nationalen Gleichberechtigung, gekürzt wieder gegeben)
Mitunter waren aber die Gesetze so verfeinert, dass sie sich kontraproduktiv auswirkten.
So konnten sich auf Grund eines Rechtsspruchs des Verwaltungsgerichtshofes „Nationalitätenschulen“ in gemischtsprachigen Gebieten, vornehmlich in Böhmen, entwickeln, die zwar Streit mindernd wirkten, jedoch die verschiedenen Ethnien noch weiter auseinander triften ließen. Die „Befriedung durch Trennung“ nach Artikel 19 (G. Stourzh, Gleichberechtigung der Nationalitäten, p.203), die letztendlich auf Kosten eines kulturellen Miteinander ging, wurde erfreulicherweise manchmal von den Volksgruppen konterkariert. In den Städten, wo die Bewohner ohnedies meist bilingual waren, hielt man an der Zweisprachigkeit in den Schulen fest. So geschehen in Prag, in Pilsen , in Budweis, in allen Gymnasien der Kronländer Tirol und Dalmatien., wo die zweite verwendete Umgangssprache ein obligater Unterrichts-gegenstand war.
„Trotz verschiedener Schwächen in der Zuständigkeit des Reichsgerichtes ( 1869 realisiert) oder des Verwaltungsgerichtshofes (1876 eingeführt) muss der Rechtsschutz im öffentlichen Recht Österreichs als eines der am weitesten entwickelten Rechtsschutzsysteme im Bereich von Verfassung und Verwaltung in Europa in den Jahrzehnten vor 1918 angesehen werden“, stellt dazu G. Stourzh fest (G. Stourzh, p.43) Mit welcher Weitsicht man damals Gesetze formulierte, zeigt auch die Tatsache, dass Teile der Gesetzesmaterie aus der Monarchie noch heute in unserer Republik Gültigkeit haben.

Wenn man sich mit dem Sprachenkonflikt in der Donaumonarchie beschäftigt, stößt man unweigerlich auf die „Badenischen Sprachenverordnungen 1897“, welche die doppelsprachige Amtsführung unter der Regierung Badeni in Böhmen und Mähren festlegten. Die deutschsprachige Bevölkerung, zum Großteil des Tschechischen unkundig, protestierte aufs heftigste dagegen und bezeichnete das Gesetz als eine „polnische Schufterei“.- Badeni war ein austro-polnischer Staatsmann.- Es kam in der Folge zu großen Ausschreitungen in Wien, Graz und Prag, zu Tumulten im Reichstag und schlussendlich zum Sturz der Regierung. Eine der schlimmsten Krisen durchschüttelte darauf die Habsburgermonarchie, die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges andauerte. Die Sprachverordnung wurde auf Druck der Deutschnationalen zwei Jahre später, 1899, unter der Regierung Gautsch vorerst gemildert und dann ganz aufgehoben. Wieder war eine Konfliktlösung zu Fall gebracht worden.

Im Gegensatz zu Böhmen war das deutsch-tschechische Verhältnis in Mähren von keinen dramatischen Spannungen begleitet. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam es auch in diesem Kronland zu großen Irritationen zwischen den beiden Volksgruppen, weil die deutsche Minderheit bis dato das Land mit einer absoluten Mehrheit regierte. Man hoffte mit dem Mährischen Ausgleich die nationalen Gegensätze beruhigen zu können. Der Ausgleichskompromiss betraf sowohl den Landtag, dessen Mandatszahl dem Verhältnis der Volksgruppen angepasst wurde, als auch das Schulwesen, das in einen deutschen und einen tschechischen Teil getrennt wurde. Der Mährische Ausgleich war kein Wundermittel, aber er brachte auf Sicht Entspannung und wirkte sich gesamt gesehen positiv auf das Land aus. Als Erfolgsmodell mehr oder weniger bewährt, dachte man daran, solche Maßnahmen auch in anderen Kronländern einzuführen, was jedoch der Ausbruch des Ersten Weltkrieges verhinderte. Die Frage, ob dieses Modell die Österreichisch-Ungarische Monarchie hätte retten können, ist nicht zu beantworten.
Ebenso bleibt offen, ob der Mährische Ausgleich als praktikables Modell zur Lösung oder wenigstens zur Entschärfung von Minderheitskonflikten in Europa dienen könnte.
Beim Verhandeln des „Südtirolpaketes“ bezüglich Autonomie diente angeblich der Mährische Ausgleich- (ich erinnere mich, dass darüber in einer Tageszeitung berichtet wurde, kann es aber heute nicht mehr verifizieren- relata refero)- als Modell diente.
So referierte Martha Stocker, Vizepräsidentin der Regierung der Region Trentino-Südtirol, anlässlich des 2005 in Cilli/Celje veranstalteten Symposiums betreffend „Integration von Minderheiten in der EU“ über den „Minderheitenschutz am Beispiel Südtirol“. Als Grundpfeiler von Südtirols Autonomie nannte sie die Eigenständigkeit in Schule und Kultur für jede Sprachgruppe, was im Grunde eigentlich dem Mährischen Ausgleich entspricht. Dezidiert erwähnte sie aber den Mährischen Ausgleich nicht dabei.

Dass es in den EU-Staaten noch viele ungelöste Probleme hinsichtlich Minderheitenschutz gibt, ist in den Medienberichten allgegenwärtig.
Laut Charta der autochthonen, nationalen Minderheiten in Europa werden auf unserem Kontinent 90 Sprachen gesprochen, davon sind 37 anerkannte Nationalsprachen und 53 gehören den so genannten staatenlosen Sprachen, den Regional-oder Minderheitensprachen, an.
http://www.fuen.org/pdfs/20060525Charta_DE.pdf)

Im gesamten europäischen Raum gibt es genügend Beispiele für ambivalente Verhältnisse zwischen Staats- und Minderheitensprachen: Bis auf Portugal hat jeder Mitgliedsstaat in irgendeiner Form es mit sprachlichen Minderheiten zu tun.
Ein ausgeprägtes System für den Minderheitenschutz ist derzeit in der Europäischen Union nicht vorhanden. Denkt man z.B. an die Roma, Sinti, die Basken oder die Korsaren, dann ist genug Sprengstoff für die Zukunft vorhanden. Es erhebt sich die Frage, ob die Auseinandersetzung mit den leidvollen Erfahrungen der Habsburgermonarchie etwas zu einer künftigen Lösung dieser Problematik beitragen kann.
Peter Urbanitsch gibt in einem Referat, das er anlässlich eines Symposiums in Saarbrücken gehalten hat, sinngemäß folgende Antwort:
„Dass die Habsburgermonarchie schlussendlich scheiterte, ist noch kein Beweis dafür, dass eine Politik, die sich auf ihre Grundsätze stützt, nicht doch erfolgreich sein kann.“
(Internationales Kolloquium der Arbeitsstelle für Österreichische Literatur und Kultur (AfÖLK) der Universität des Saarlandes (UdS) vom 14. bis 16. Oktober; Thema der Veranstaltung: Von der Doppelmonarchie zur Europäischen Union – Österreichs Vermächtnis und Erbe)

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