Kollektive Identitätsstiftung innerhalb der Donaumonarchie und Identitätsfindung in der Europäischen Union


Anlässlich des internationalen Kolloquiums 2004 in Saarbrücken, das unter dem Titel „Von der Doppelmonarchie zur Europäischen Union – Österreichs Vermächtnis und Erbe“ veranstaltet wurde, hielt Prof. Dr. Ernst Bruckmüller ein Referat, das sich mit der kollektiven Identitätsstiftung innerhalb der Donaumonarchie befasste. Unter „kollektiver Identitätsstiftung“ versteht der Referent das Schaffen eines „kollektiven Bewusstseins“ im Vielvölkerstaat der Doppelmonarchie als Gegengewicht zum Nationalitätenstreit. Dieses Bewusstsein einem größeren Ganzen anzugehören, wird nicht ererbt, sondern muss ständig neu geschaffen werden. Dazu haben sich in der Donaumonarchie verschiedene Institutionen und Instanzen gebildet, die sich um die Vermittlung eines Österreichpatriotismus bemühten.
Der Autor führt eine Reihe von Beispielen an, die für die Vermittlung kollektiver Identität
in Frage kommen, wie Elternhaus, Schule, Vereine, Kirche, die gemeinsame Armee und den Herrscher (Kaiser) Vor 1848 habe man sich weder als Slowene noch als Deutscher gefühlt, weil die Nationalität zu dieser Zeit noch keine Rolle spielte. Auch die Schule war damals noch übernational und wirkte nicht national prägend.
Mit der zunehmenden Nationalisierung innerhalb der Völker der Donaumonarchie wird jedoch die Sprachzugehörigkeit stärker in das Blickfeld gerückt.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die Sprache dann bereits zum Trennenden und zu einem Symbol nationaler Zugehörigkeit zwischen den verschiedenen Nationen entwickelt.
Umso wichtiger galt es daher das kollektive Bewusstsein, das einem größeren Gemeinwesen angehören- wollen, zu fördern.

Ein Pfeiler dieses Österreich -Bewusstseins in der Monarchie bis zum Untergang des Vielvölkerstaates war das Bürgertum mit seiner loyalen Haltung gegenüber der Obrigkeit bzw. dem Herrscherhaus. „Wenn eine Verordnung verlangte, dass jeder Österreicher schwarzgelbe Strümpfe zu tragen habe, so würde ich noch heute mit schwarzgelben Strümpfen auf die Straße gehen“, schreibt Friedrich Engel Janosi in seinen ´Erinnerungen`, Graz-Wien-Köln 1974, das von E. Bruckmüller in seinem Referat zitiert wird.
Einen besonderen Nahbezug zur Staatsnation hatten in der Ära Kaiser F.J. die Juden, darunter vor allem die wohlhabenden und die gebildeten. Sie waren es auch, die dem Untergang der Monarchie besonders nachtrauerten. Diese Bindung kommt besonders in der Novelle von Joseph Roth „Die Büste des Kaisers“ zum Ausdruck: „Meine alte Heimat, die Monarchie, war ein großes Haus mit vielen Türen und vielen Zimmern, für viele Arten von Menschen. Man hat das Haus verteilt, gespalten, zertrümmert. Ich habe dort nichts mehr zu suchen. Ich bin gewohnt, in einem Haus zu leben, nicht in Kabinen.“.
Eine weitere Stütze der Monarchie, waren die Bauern. Sie standen der Monarchie im Allgemeinen positiv gegenüber, obwohl zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Zugehörigkeit zu einer Sprachnation auch bei ihnen sich verstärkt zeigte.
Bei den genannten drei speziellen Gruppierungen war die Loyalität zur Monarchie aber im Großen und Ganzen in Ordnung.
Einen besonderen Stellenwert in der Willensbildung zu einem Österreichbewusstsein kam der k.u.k. Armee zu. „In deinem Lager ist Österreich, wir andern sind einzelne Trümmer“, steht auf dem Reiterdenkmal von Feldmarschall Johann Joseph Wenzel Graf Radetzky von Radetz am Stubenring vor dem ehemaligen Kriegsministerium. Dieser Lobgesang auf die kaiserliche Armee von Franz Grillparzer charakterisiert am besten die Bedeutung des gemeinsamen Heeres, die bis zum bitteren Ende, entgegen allen negativen Voraussagen, zur Monarchie stand. Deutsche, Tschechen, Ruthenen, Walachen, Kroaten, Slowaken, ja selbst die Ungarn fanden sich zu einem einträchtigen Zusammenleben beim Militär zusammen. Die dreijährige Dienstzeit, wenn auch mitunter von großen Schikanen begleitet, vermittelte Disziplin, Bildung und brachte damit bis in den letzten Winkel der Monarchie europäische Kultur. Die Militärzeit blieb in der Regel auch nach der Abrüstung allen in positiver Erinnerung. Man hatte die territoriale Größe der Monarchie durch die weit verstreuten Garnisonsorte kennen gelernt. Wer „gedient“ hatte und gesund in seine Heimat zurückkehrte, genoss besonderes Ansehen in seinem Karpaten- oder Beskidendörfchen. Man war stolz, dass man den „Rock des Kaisers“ tragen durfte.
Man stößt selbst heute noch in Kroatien, Bosnien, Istrien, Ungarn, ja sogar in Polen auf Fotos, die den Großvater oder Urgroßvater in der k.u.k.Uniform zeigen. So konnte ich anlässlich einer Reise durch Polen im vergangenen Jahr im Rathauskeller der ehemaligen Garnisonsstadt Neusandez (Nowy Sacz) noch ein großes Gemälde an einer Wand entdecken, das ein Kaisermanöver darstellt.

Ein besonderes Augenmerk verdient das Bildungssystem, dem die Vermittlung eines gesunden Österreichbewusstein in den Gymnasien und Hochschulen zufiel.. Denn gerade hier bahnte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert bei den deutsprachigen Studenten unter dem Motto:„Los von Rom!“ und „Los von Habsburg!“ eine gefährliche Situation für die Monarchie an. Während man bei den deutschen Burschenschaften „Die Wacht am Rhein“ sang und dem Antislawismus huldigte, stimmten die anderen Nationen in ihren Muttersprachen „Das Gott erhalte...“ an.
Großer Wert wurde daher in den "mittleren" Schulen auf den Geschichts-und Geografieunterricht gelegt, der einen gesamtstaatlichen Patriotismus erzeugen sollte. Welche Beachtung man der Gestaltung der Schulbücher widmete, zeigt zum Beispiel die "Österreichische Vaterlandskunde“ für die oberste Klasse der Mittelschulen (Laibach 1915, Verlag Kleinmayr & Fed.Bamberg) an der hochrangige Wissenschaftler mitgearbeitet haben.
Die Texte darin sind durchwegs habsburgisch, völkerverbindend und antinational gehalten. Wie übrigens auch die übrigen Fachbücher eine hohe wissenschaftliche Qualität in dieser Zeit aufweisen. Der geistigen jungen Elite der Monarchie stand es offen in Wien, Budapest, Prag, Czernowitz , Krakau oder Lemberg zu studieren.
Durch das Reichsvolkschulgesetz 1869, welches das elementare Schulwesen neu ordnete, konnte man ebenfalls schon in der Volksschule „Staatsbürgerkunde“ vermitteln. Ein zweischneidiges Schwert, weil hier in der jeweiligen Muttersprache nicht nur zu Habsburger-Loyalität angehalten wurde, sondern auch die Erziehung zur eigenen Nation mit Nachdruck forciert wurde. Zusammen mit den Volksschullehrern predigten im Besonderen die Geistlichen Herren, die für den Religionsunterricht zuständig waren, den modernen Nationalismus.
Die Fibeln hingegen mit ihren Geschichten berichteten sowohl über habsburgische Vorfahren und andere große Persönlichkeiten der Monarchie, wie auch ausführlich über die Geschichte der einzelnen Völker. So fanden sowohl die beiden Slawenapostel Kyrill und Method, die Zeremonie der Herzogseinsetzung in Kärnten, die heldenhafte Verteidigung von Szigetvar unter Nikolaus Zriny und viele andere nationale Gestalten Eingang in die Volksschullesebücher.
Ein Pflichtschulabgänger um 1900 verfügte über die geschichtlichen und geografischen Grundkenntnisse der gesamten Monarchie, die damals nach Russland die zweitgrößte Flächenausdehnung unter den europäischen Staaten hatte. Die damalige Erziehung, klammert man den Habsburgermythos aus, war durchaus gesamtstaatlich, auf abendländischen Wurzeln fundierend, angelegt
.Das “Europa“, das wir heute mit der Europäischen Union identifizieren, hat die Ostgrenzen der Donaumonarchie noch lange nicht erreicht. So sind mit der Schengenöffnung am 21. Dezember 2007 die ganze Westukraine, ein Großteil der Bukowina, Kroatien, die Vojvodina und die Bucht um Cattaro in Montenegro heute hermetisch vom Vereinten Europa ausgesperrt. Es sind darunter vor allem jene Regionen, die unter der Herrschaft der Donaumonarchie, nach dem Ende der Türkenkriege europäisiert wurden und jetzt wieder außerhalb der Grenzen des heute definierten Europas liegen.

Nun zu einer Zustandsaufnahme der Europäischen Union.
Fragt man heute junge Menschen, was sie von Europa halten, was sie über die Geschichte der 27 Staaten wissen, die in der EU vereint sind, wird man nur fragmentarische Antworten dazu erhalten. Das Identitätsstiftende Modell der Donaumonarchie, wenn auch mit Fehlern behaftet, könnte durchaus der EU gute Dienste erweisen, falls diese in ihrer weiteren Integration vorankommen möchte.
Bei den 125. Bergedorfer Gesprächen, die 2003 in Hamburg stattfanden, wurde unter dem Titel „Europa neu begründen – kulturelle Dimensionen im Integrations-und Erweiterungsprozess“ auf die Bedeutung eines gemeinsamen Europagefühls hingewiesen.
Seit mehr als ein Jahrzehnt bemüht man sich um eine einheitliche Darstellung der Geschichte Europas, leider ohne Ergebnis bis heute. Es scheiterte immer wieder an den verschiedenen nationalen subjektiven Darstellungen. Daran wird sich auch in naher Zukunft nicht viel ändern, weil man noch zu sehr dem nationalen Denken verhaftet ist. „Die EU kann aber das kreative Potential ihrer Pluralität nur dann zur Entfaltung bringen, wenn es ihr gelingt europäische Zivilisation zu entwickeln“, bringt Werner Suppanz das Dilemma, das die EU mit der Vermittlung einer gemeinsamen Heimat Europa hat. auf den Punkt.(erschienen in: Newletter Moderne. Zeitschrift des Spezialforschungsbereichs Moderne-Wien und Zentraleuropa um 1900 7/2 (September 2004).
Damit soll jedoch nicht dem föderalen Gedanken, der es gestattet, jedem Land die Möglichkeit zu belassen, seine eignen Traditionen zu pflegen, eine Absage erteilt werden. Das geeinte Europa sollte aber ehestens ein gemeinsames, gefestigtes schützendes Dach als übergeordnete Instanz, erhalten.
Zur Zeit deklariert man sich nur dann als EU-Bürger, wenn man weit weg von Europa auf einem andern Kontinent weilt.
Bei den bereits mehrmals erwähnten Bergedorfer Gesprächen mahnt daher Prof. Dr. Johano Strasser, undogmatischer Querdenker und ehemaliger Präsident des deutschen PEN Clubs mit folgenden Worten eine klarere Haltung zur Europäischen Union ein: „Die Integration wurde listig eingefädelt über die Ökonomie, während die großen Fragen der europäischen Identität –Was sind wir eigentlich? Welche Rolle sollen wir spielen?- ausgeklammert wurden. Es sah so aus, als wäre es nur auf diese Weise möglich, auch die Engländer
ins Boot zu holen und überhaupt ein paar Schritte voranzukommen.“
Die Donaumonarchie ist an der Uneinigkeit und Eigennutz ihrer Völker zu Grunde gegangen. Das Vakuum, das zurückgeblieben ist, hat uns einen Zweiten Weltkrieg beschert, der mehr als 50 Millionen an Toten gekostet hat.
Die EU hat uns als Friedensprojekt – leider von nicht allen als solches erkannt –bisher Wohlstand und Sicherheit gebracht. Dieses in der Geschichte einmalige europäische Einigungswerk braucht aber für die Zukunft noch viel Veränderungswillen, soll dieses Europa nicht zu einer Provinz im Schatten aufsteigender Großmächte werden.

P.S.: Weitere Beiträge folgen nun laufend! Leider konnte ich auf meinem Computer noch nicht das neue Programm 2007 installieren, sodass die vorgeschiebene Formatierung ( z.B. Zitierung und Fußnoten) noch zu wünschen übrig lässt.

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